Agiler Hausbau - Wie Agilität meine Existenz ruiniert hat

Ein Gastbeitrag von Steffan R.[1] Unsere Freude war groß. Meine Frau und ich waren seit 7 Jahren zusammen, als wir die freudige Nachricht erhielten: Wir bekommen Nachwuchs! In sechs Monaten werden wir zu dritt sein – eine richtige Familie! Genau so, wie wir uns das schon seit Jahren gewünscht hatten.

Endlich war auch der Anlass geschaffen, sich nach einem richtigen Zuhause umzusehen. Die günstige Zweizimmerwohnung aus der Studentenzeit hat zwar den Geldbeutel geschont, doch zu dritt wird es dann ein wenig Eng werden. Nach 10 Jahren im Job ist zum Glück Einiges zusammengekommen. Der Aufstieg vom Software-Entwickler zum Scrum-Master und schließlich zum Projektmanager hat die Sparkonten gut gefüllt, so dass das eigene Heim nicht allzu fern scheint.

Wir bauen ein eigenes Haus

Nach kurzen und einfachen Gesprächen mit der Bank stand einem Neubau fast nichts mehr im Weg. Das einzige Problem, das wir jetzt noch hatten, war, dass wir uns noch keine Gedanken gemacht hatten, wie unser neues Haus nun aussehen sollte. Gleichzeitig rückte der Geburtstermin immer näher, es war also Tempo angesagt.

Wir wendeten uns an einen Architekten, der uns beraten und die Planung des Hauses übernehmen sollte. Auf die Timeline angesprochen, waren wir schockiert: Ein Jahr solle man mindestens einplanen. Das war uns viel zu lang, schließlich wollten wir direkt nach der Geburt unseres Sohns dort einziehen.

Bei genauerer Betrachtung des Zeitplans ließen sich die gleichen Planungsfehler wie bei der Softwareentwicklung nach Wasserfall-Methode identifizieren. Alle Schritte waren sequenziell, begleitet von viel Papierkram, Leerzeiten und nur an ganz wenigen Stellen war paralleles Arbeiten eingeplant. Am Ende wären nie mehr als 3 Handwerker gleichzeitig auf der Baustelle aktiv, an den meisten Tagen gerade mal ein einziger Handwerker.

Wir überarbeiten den Plan mit agilen Methoden

Mit Verweis auf meine jahrelange Erfahrung im Projektmanagement wies ich den Architekten auf diesen Missstand hin. „Ja, aber die Branche tickt nun mal so“, so die Antwort. Wir mussten uns wundern, warum der Architekt hier so gleichgültig reagiert. Ist denn wirklich niemand in der Baubranche an einer Verbesserung interessiert?

Ich nahm mir die Zeit, dem Architekten Planungsmethodik aus der Software-Branche zu erklären. Anhand eines Gantt-Diagramms konnten wir viele Arbeiten parallel gestalten, so dass die verbesserte Planung einen Einzug direkt nach dem Geburtstermin vielversprechend aussehen ließ. Auch für die iterative Herangehensweise bei noch unklarem Ziel konnte ich ihn gewinnen.

Inspect & Adapt fand er genauso sinnvoll wie die Daily StandUps und die regelmäßigen Abgleiche in Form von Sprint-Plannings und -Demos. Mit dem Fokus auf Verantwortungsbewusstsein und Kommunikation, gepaart mit selbst organisierenden Teams und einer Review-Kultur erwiderte er: „Auf der Baustelle kommt es da immer wieder zu Missverständnissen und gleichgültigem Handeln. Das würde hier tatsächlich helfen.“ Er ließ sich also auf das Experiment ein.

Hausbau geht los!

Mehr Gegenwind gab es beim Baumeister. „Wie stellt ihr euch das vor? Die meisten Handwerker sind schon mit einfachsten Problemlösungen latent überfordert, und dann sollen die auch noch Fremdgewerke übernehmen?“ Wir entgegnen, dass Teil der Agilität auch die Weitergabe von Wissen beinhaltet. „Ein bisschen mehr Bildung und Wissen würde denen allen sicher nicht schaden“, gibt er ernüchtert zu.

Was wir in den darauffolgenden Tagen erlebten, sah von außen mehr als nur vielversprechend aus: Die Handwerker nahmen sich untereinander zur Seite und erklärtem den anderen ihr Handwerk. An einigen Stellen wurde ich etwas überrascht, wie die SCRUM-Rituale umgesetzt wurden. So beobachtete ich, dass der Vorarbeiter im StandUp morgens um 7:30 an alle zusammenstehenden Handwerker Bier verteilte. In der Runde wurde dann genüsslich angestoßen. Motivation funktioniert wohl in jeder Branche anders.

Und den ersten Anwendungsfall für Agilität hatten wir auch schon identifiziert: Ursprünglich hatten wir gedacht, dass von der Straße auf der Südseite wohl viel Lärm käme. Das war aber nicht der Fall, also hatten wir ab Sprint 2 das Wohnzimmer mit Terrasse nach Süden verlegt, und den Versorgungsraum auf die Nordseite. Nach dem Wasserfall-Modell hätten wir keine Sonne auf der Terrasse.

Die Quittung für das Experiment

Die Klarheit kam mit der ersten Rechnung. Die Handwerker hatten ihren Wissensaustausch untereinander selbstverständlich voll abgerechnet. Doch nicht nur das. Wir liegen weit hinter dem Zeitplan, denn die Gewerke wurden schlichtweg nicht fertig. Wir fragten nach, und es stellte sich heraus, dass für die Fremdgewerke niemand Verantwortung übernehmen wollte. Die Heizung, die vom Fliesenleger gemacht wurde, wollte nicht funktionieren. Der Parkettleger, der am Dachstuhl mitgeholfen hat, meinte nur „mir fehlt einfach die Kondition. Ich krabble sonst nur auf allen Vieren auf dem Boden rum.“ Und der Maurer meinte nur „ich war gegen Mittag schon so dicht, dass ich die ganzen Kabel im Sicherungskasten nimmer auseinanderhalten konnte.“ Die Zimmerleute beschwerten sich, dass der Heizungsbaulehrling nicht schwindelfrei sei, worauf dieser erwiderte, dass das nur am Bier trinken läge, zu dem er durch den sozialen Druck der Zimmerleute gezwungen werde.

Das, was ursprünglich als Review angedacht war, lief in der Realität vollkommen anders ab und zersetzte das frisch zusammengestellte Team von Handwerkern kontinuierlich: „Ja keine Ahnung – ich bin Zimmermann, kein Heizungsbaumeister. Wird schon passen. Die Verrohrung schaut jedenfalls beeindruckend aus.“ war noch die positivste Variante. Es kam aber auch zu Streitereien. Beispielsweise als der Fensterbaugeselle den Elektromeister darauf hinweisen wollte, dass der Bewehrungsstahl hätte geerdet werden müssen, worauf sich der doppelt so alte Elektromeister mit Verweis auf seinen Meistertitel jegliche Einmischung verbat.

Auch der Architekt meldete Bedenken an: Die Baustelle versinke im Chaos. Statt Zusagen und fester Termine werde er nur noch zu Demos und Retrospektiven eingeladen, in denen sich eine gewisse Unverbindlichkeit eingeschlichen habe. Durch den Wissensaustausch haben einige der talentierteren Handwerker ihren Job gekündigt und besserbezahlte Jobs woanders angenommen. Um die Handwerker zu halten, seien jetzt auch höhere Stundensätze und mehr Zugeständnisse nötig. Es fielen Wörter wie „Gleitzeit“, „Vertrauensarbeitszeit“, „4-Tage-Woche“, „Sabatical“, was eine Planung unmöglich mache. Und sie forderten eine PlayStation für die Mittagspause.

Die Katastrophe begann

Nachdem der Rohbau fertig, der Putz und die Elektrik gemacht waren, die Wasserrohre lagen und das Dach schließlich doch noch dicht wurde, wandten wir uns an die Versorgungswerke. Ein selbstbewusster kräftiger Mann kam vorbei, um Wasser und Strom anzuschließen. Doch statt wie geplant uns Zugang zu Elektrizität und Wasser zu verschaffen, fragte der Mann etwas ungehalten, was denn das für ein Pfusch sei. Die TAB (Technische Anschlussbedingungen) sähen einen Anschluss in dieser Form nicht vor. Der Anschluss könne nur auf der straßenzugewandten Seite vorgenommen werden. Das war jedoch die Südseite, die wir ganz agil in Sprint 2 umgeplant hatten.

Fluchend zog der Vertreter des Versorgers von dannen, und wir standen mit einem Problem mehr da. Der Architekt und ich dachten noch, dass wir das dann halt in den nächsten Sprint einplanen, aber da kam auch schon das Bauamt vorbei. Sie hätten mitgeteilt bekommen, dass großangelegter Pfusch betrieben würde. Die Genehmigung passte augenscheinlich nicht zu dem, was sie hier vorfänden. Kurzerhand wurde uns der Weiterbau untersagt und die Baustelle geschlossen.

Daraufhin meldete sich die Bank bei uns. Sie hätten erfahren, dass dem geplanten Bauvorhaben wegen erheblicher Abweichungen die Genehmigung entzogen wurde und sie gerne einen Gutachter vorbeischicken würden. Dieser Gutachter verstand zwar unseren Planungsansatz, fand dazu aber sehr eindeutige Worte: „Die Bank und die Gemeinde geben euch einen riesigen Vertrauensvorschuss. Ihr könnt doch nicht irgendwie rumwurschteln, und dann hoffen, dass es irgendwann schon irgendwie passt. Wie lange wollt ihr denn noch eure Nachbarn mit der Baustelle belästigen und das Ortsbild stören? Wie viel Geld wollt ihr denn den kleinen Sparern noch wegnehmen? Deswegen ist die Regel ganz einfach: Einmal ordentlich nachdenken, was man genau braucht, dann geht das durch die Plan-, Prüf- und Genehmigungsverfahren, und dann baut man das genau so.“

Das Ende

Was darauf folgte, war ein unaufhaltbarer Albtraum. Die Bank kippte die Hypothek und reichte Klage ein. Die Nachbarn klagten auf Beseitigung der Baustelle, was wir uns nicht mehr leisten konnten. Meine Frau gab mir die Schuld an unserer finanziellen Situation und warf mich aus unserer Zweizimmerwohnung, in der sie mit dem Kleinen noch wohnen konnte, bis die nächste Miete fällig wurde. Der darauffolgende Scheidungskrieg raubte mir so viel Kraft, dass ich in Therapie musste und meinen gutbezahlten Job als Projektmanager verlor.

Mit 36 Jahren wohne ich jetzt wieder bei meinen Eltern und bin privatinsolvent. Vielleicht sollte ich nach Abschluss des Insolvenzverfahrens lieber wieder Entwickler werden und das Fehler machen den anderen überlassen. Als Entwickler hat sich Agilität eigentlich ganz gut angefühlt. Ich weiß jetzt aber auch, dass Agilität für Investoren und andere Projektbeteiligte ein vollkommen unterschätztes Risiko ist, an dem Familien und Schicksale hängen. Egal in welcher Branche.

[1] Name wg. laufendem Gerichtsverfahren geändert, Name der Redaktion bekannt.