Ein Gastbeitrag von Christoph L., 41.

8:30 morgens, irgendwo in Deutschland.

Ich hatte gerade den Kleinen bei der Schule abgesetzt und erfolgreich den Stau hinter mich gebracht. Nach dem Marsch vom hinteren Ende des Parkplatzes ins Büro noch schnell die Tasche abgestellt und schon war ich auf dem Weg ins Daily Stand-Up.

Kurz vor der Besprechungsecke überkam es mich. Ich hatte keine Erinnerung mehr an den gestrigen Tag – nur noch, dass ich sehr frustriert in den Feierabend ging. Und, dass heute wieder das Sprint-Demo ansteht, die Software aber gerade in einem miserablen Zustand war. Keine gute Grundlage für den heutigen Start in den Tag. Der Gedanke daran, mich jetzt im Daily Stand-Up vor den anderen rechtfertigen zu müssen, gab mir den Rest.

Dann passierte es

Mitten auf dem Gang fing mein Herz an zu rasen, mir wurde schwindlig und ich sah‘ nur noch Sterne. Manche würden das wohl als Panikattacke bezeichnen. Kurz darauf wachte ich auf dem Boden auf. Viele aufgeregte Kollegen scharten sich besorgt um mich. Mein Versuch, vermeintlich professionell das Problem abzutun, wurde mir von einem Kollegen ausgeredet. Er nahm‘ meine Hand, half‘ mir auf, und zerrte mich beiseite in die Kaffeeküche.

In der Kaffeeküche angekommen, kam der Kollege direkt auf den Punkt. „Ich weiß, was mit dir los ist. Wir gehen jetzt zum Betriebsarzt. Und der wird nichts finden.“ Ich war ein wenig verwundert. Aber der Betriebsarzt fand tatsächlich nichts. Ganz im Gegenteil, er lobte meinen gesundheitlichen Gesamtzustand. Aber warum hatte es mich dann vorhin umgehauen? „Kreislauf bei Schreibtischleuten halt – ab 40 macht der immer wieder mal Probleme. Wir sollten das im Auge behalten“ sagte der Arzt lapidar und empfahl mir häufigere Routineuntersuchungen, die ich bisher sowieso nie in Anspruch nahm. Vielleicht wär’s besser gewesen.

Ein Kollege gab mir den entscheidenden Hinweis

Zurück beim Kollegen empfing mich dieser mit den Worten „Nichts, stimmt’s?“ – Er hatte Recht. „Wusstest du, dass fast 20% aller ITler vorübergehend oder dauerhaft berufsunfähig werden?“ ich war verblüfft – ich hätte das nie geahnt. Bei Berufsunfähigkeit fallen mir eher abgesägte Finger von Schreinern, festbetonierte Füße von Estrichlegen oder abgestürzte Dachdecker ein. Aber ITler? Ich recherchierte und fand heraus, dass Haltungsschäden und Depressionen die beiden Hauptgründe für Berufsunfähigkeit in der IT sind. Gut, mein Rücken war nicht in bestem Zustand, aber das wird es nicht gewesen sein. Fühlt sich so eine Depression an? Ist das, was mir widerfahren ist, ein Symptom einer Depression?

Wie kann das sein? Ich habe eine wunderschöne fürsorgliche Frau, einen zuckersüßen 7-Jährigen und ein Häuschen wie man es sich nicht schöner vorstellen kann. Bisher hat auch karrieremäßig alles funktioniert, was ich mir nur wünschen konnte. Wieso sollte ausgerechnet ich eine Depression haben?

Der Kollege blieb stur. „Schau‘ mal nach ambulanter Psychotherapie.“ Er hatte schon einmal Recht gehabt, also folgte ich seinem Rat. Nach einiger Überwindung fand‘ ich einen Therapeuten, der mir kurzfristig einen Termin anbieten konnte.

Ich ging in Therapie

Die Erkenntnis, dass ich Hilfe brauchte, fiel mir denkbar schwer. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob ich ein Loser sei. Sogar direkt vor der Tür des Therapeuten hatte ich Hemmungen, die Praxis zu betreten, so tabu war das Thema in meiner Weltvorstellung.

Meine Vorstellung von einer Therapie sah einen durchgeknallten Esoterik-Spinner mir gegenübersitzen, der mir hochgradig abhängig machende Psychopharmaka andrehen will, von denen ich 40kg zunehme und fortan realitätsentrückt in einer Parallelwelt lebe, ohne es zu merken.

Doch schon die erste Sitzung gestaltete sich vollkommen anders. Nach den ersten Fragen zu Familie und Job ging es schnell. Nicht nur entdeckte der Therapeut, dass ich wohl nur deswegen Informatiker geworden bin, weil ich in meiner Kindheit negative Erfahrungen mit Menschen hatte und mich deswegen von Menschen abgewandt und eher für Technik interessiert habe.

Wir brauchen Stabilität und Perspektive

Auf meinen Arbeitsalltag angesprochen, schilderte ich ihm das Setup der agilen Projektwelt. Common Code Ownership von riesigen Code-Mengen, schnelle Reaktion auf ständige Veränderung, alle 14 Tage ein Sprint-Demo und Daily Stand-Ups. Seine Antwort war sehr eindeutig: „Das Letzte, das Sie jetzt brauchen, sind schnelle Veränderungen und Überraschungen. Keine täglichen Rechtfertigungen und chronischen Stress. Sie brauchen Stabilität und Perspektive.“

Und irgendwie lag er richtig: Nicht jeder verträgt tägliche Rechtfertigungsrunden ein Arbeitsleben lang. Chronisch künstlich aufrechterhaltener Lieferdruck durch Stand-Ups und Sprint-Demos sind genauso tödlich für die Psyche wie die die allumfängliche Code-Verantwortung in großen Projekten. Gleichzeitig kann man dem Hamsterrad kaum entfliehen, da ja das Team das wichtigste ist. Alle Manager drumherum schauen bei dem Ausbeutungszirkus belustigt zu und treiben ihre eigene Karriere voran. Karriere? In einer agilen Welt für Entwickler nicht vorgesehen.

Ernüchtert stellte ich fest, dass ich wohl in meinem Leben zu oft zu nett war, zu oft „ja“ gesagt habe und mich damit in eine psychisch problematische Situation gebracht habe. Die „Karriere“, die mir vorgegaukelt wurde, passten nicht zu den Bedürfnissen. Und die schnellen Änderungen der Arbeitspakete wie auch die fehlende langfristige Produktperspektive ließen mich Ängste vor Überforderung entwickeln.

Die Konsequenz konnte nur eins sein: Raus aus dem Agile-Zirkus. Mehr Planbarkeit. Mehr Stabilität. Mehr Perspektive. Mehr Nachdenken vor dem Handeln. Der nächste Job war also klar: Nie wieder Agile. Nie wieder SCRUM. Wasserfall ist offenbar doch nicht so verkehrt.

Ich bin jetzt glücklich. Es gibt einen Betriebsrat, damit die Entwickler in Würde arbeiten dürfen. Ich weiß, dass das Release in knapp 2 Jahren ansteht, und in den Spezifikationen ist alles schon festgeschrieben. Im Team haben wir für jede Code-Ecke einen ausgewiesenen Spezialisten, und wir teilen uns den Zeitplan entlang der Spezifikation ein. Keine Panikattacken alle 2 Wochen vor der Sprint Demo. Ich weiß ganz genau, wann was fertig sein muss und kann meine Zeit mittel- und langfristig einplanen.

Wie geht’s dem Kollegen?

Ich bin dem Kollegen bis heute dankbar für seine Weitsicht. Erst später habe ich erfahren, dass er offenbar Quereinsteiger ist. Ihm blieb schlichtweg keine andere Option, als das Agile-Theater mitzumachen. Nach eigener Aussage ermöglichte ihm die chaotische Agile-Welt, seine fehlende Expertise zu kaschieren. „Du brauchst nur das richtige Vokabular und die richtigen Phrasen, um die Stand-Ups zu überleben.“ Danach interessiere es doch sowieso niemanden, was wer wie macht – jeder sei in dem Chaos nur noch mit seinem Stress beschäftigt, so seine Aussage. Und so wurschtelt mein ehemaliges Team weiterhin aneinander vorbei. Hauptsache, es ist Agile Development. Ich bin froh, dass ich da raus bin.